ABS Regelverhalten

  • #21


    Da braucht es mehr als einen simplen Neigungssensor. Ein Neigungssensor reagiert, wenn der resultierende Vektor aus Schwer- und Fliehkräften, die auf das Motorrad wirken, hinreichend lange nicht parallel zur Ebene Schwerpunkt --> Reifenaufstandslinie ist. Damit kann man keine Kurvenschräglage messen, sondern höchsten Querbeschleunigungen und Beschleunigungen um die Rollachse, wie sie beim Aus- und Einleiten von Kuven auftreten. Deshalb reagiert das Notabschaltsystem auch verzögert, damit nicht in jeder Kurve der Motor ausgeht.


    Das Herzstück des Bosch- Kurven-ABS ist eine Art Kreiselsystem, welches Lageveränderungen des Motorrades im Raum und zusätzlich Beschleunigungsvektoren jeder Richtung messen kann. Und zwar sehr schnell und sehr oft pro Sekunde. Dabei fällt eine gewaltige Datenflut an, die gemeinsamen mit den Daten der Inkrementenräder am Vorder- und Hinterrad, Daten über Drehzahl und Gasstellung, Gangsensor, Bremsdruck etc. dazu führen, dass man die Bewegung über Grund hinreichend genau schätzen bzw. extrapolieren kann. Ein Problem bei der Entwicklung war z.B. eine Methode zu finden, wie sich das Kreiselsystem während der Fahrt immer wieder kalibrieren lässt. Bei Kurvenhatz im Rennmodus muss es also immer wieder zwischengeeicht werden auf den Zustand "unbeschleunigtes Geradeausrollen", um die Extrapolation einigermaßen zuverlässig hinzubekommen. Ein weiteres Problem war und ist auch bei traditionellem zweirädrigem ABS, die Geschwindigkeit über Grund hinreichend genau feststellen zu können. Das geht leider nicht über die ECU - die kann mir bestenfalls sagen, wie schnell und mit welchem Drehmoment das Hinterrad gerade angetrieben wird.
    Jedes ABS macht sein Eingreifen (u.A.) an der Differenz von Radumdrehungsgeschwindigkeit und Bewegung über Grund - auch Schlupf genannt - fest. Wenn diese Differenz zu groß wird, wird der Bremsdruck verringert. Entweder man misst irgendwie die tatsächliche Geschwindigkeit oder man misst die zeitl Änderung der Umdrehungsgeschw. der Räder und "schätzt". Angestrebt wird ein Einregeln auf ca. 10% Schlupf (fahrzeugabhängig) beim Geradeausfahren, da hier die Bremswirkung so ziemlich am Größten ist.


    Na ja, alles nicht so wichtig. Hauptsache, es funktioniert. Und das tut es ja wohl.


    Trotzdem nochmal die Frage: Weiß zufällig jemand, wie das AT- ABS im Geländemodus feststellt, wann das Vorderrad zu viel Schlupf hat?
    Signale der ECU (Motorsteuerung) dürften ziemlich wertlos sein, wenn das Hinterrad im ausgekuppelten Zustand blockiert ist.
    Meine Vermutung ist, dass der Eingriff des ABS einzig und allein an der Stärke der Verzögerung der Vorderradgeschwindigkeit festgemacht wird. Das hieße aber, dass bei abgeschaltetem Hinterrad-ABS ein Stoppie möglich wäre, wenn der Gripp hoch genug ist. Das könnte schon mit Stollenreifen auf nasser Wiese der Fall sein.
    Es kann auch sein, dass ein bestimmter Höchstwert an linearer Verzögerung gesetzt ist, bei dessen Überschreitung das ABS regelnd eingreift. Dieser müsste so gesetzt sein, Dass auch ein schwerer, großer, sich sehr weit vorbeugender stehend Fahrender nicht über`s vorderrad gehen kann. Damit wären versehentliche Stoppies weitgehend unterbunden. Das hieße aber, dass bei sitzend fahrenden und erst Recht bei Fahrten mit Gepäck und Sozia, wenn sich der Schwerpunkt deutlich nach unten/hinten verschiebt, erhebliche Bremsressourcen ungenutzt bleiben müssten.


    Also: Bitte beim Wechsel von Offroad zu Asphalt nicht vergessen, das ABS auch hinten wieder zu aktivieren, um unverhoffte Purzelbäume zu vermeiden bzw. um volle Bremskraft im ABS-Modus zu erhalten.

    Schöne Grüße aus Boblas
    Matthias


    Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Ernst Bloch (1885-1977)


    [b]Meine Reisen

  • #22

    Honda macht den Regelvorgang über die Änderung des Drehwinkels des jeweiligen Inkrementalrades in der Zeit. Dazu kommt eine limitierte maximale Verzögerung von ca. 9,2 m/s² um die Gefahr eines Stoppies zu vermindern (muss eigentlich provoziert werden z.B. durch Gewichtsverlagerung im Gelände....)

  • #23


    Danke!
    Kann ich nachvollziehen.


    Die limitierte Beschleunigung gilt aber sicher nur im Geländemodus, oder? Denn sehr groß ist dieser Wert, bezogen auf Asphalt, nicht. Und wenn man hinten ABS-Regelung hat, hat man ja gute Kontrolle, wann der Stoppi sich anbahnt und kann gegensteuern, in dem man vorn Druck rausnimmt... :?:

    Schöne Grüße aus Boblas
    Matthias


    Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Ernst Bloch (1885-1977)


    [b]Meine Reisen

  • #24

    Auch auf der Straße..... ist halt ein paar Prozent unter dem üblicherweise machbaren, erspart aber eine Überschlagskontrolle. Und wenn du das auf der BMW erlebt hast, willst du das nicht wirklich haben. Anbremszone zu einer Kurve auf welligem Asphalt mit einem springendem Hinterrad...

  • #25


    Ich sach dir.... ist mir mal bei ner Probefahrt passiert. Kann einem voll die Linie versauen, wenn man Pech hat auch den ganzen Tag.
    Hat mich auch sehr lange von ABS Moppeds abgeschreckt.


    Ist bei der AT eigentlich auch die Tachoanzeige mit dem ABS verknüpft? Bei der Supertenere kann man durch Nachrüsten eines Schalters oder das Ziehen der Sicherung ABS abschalten, hat aber keine Geschwindigkeitsanzeige mehr. Hat jemand eine Ahnung, wie es bei der AT geregelt ist? Wenn nicht, auch nicht schlimm, dann werde ich mal die Sicherung ziehen und testen, wenn sie dann da ist ;)

  • #26

    Hatte ich 2009 mal bei einer Probefahrt von der Panoramica dell Vette runter mit einer F800GS ... mich hat das eigentlich nur von BMW-Motorrädern abgeschreckt ... war das ja selbst von meiner 2004er Varadero viel besser gewohnt.

  • #27


    Oh...


    Bei meiner Probefahrt hatte ich noch gedacht: "Hui, das ABS greift aber früh!" Von meiner DL1000 (ABS-frei) war ich wesentlich rabiatere Verzögerungen gewohnt.
    Ich hatte damals die schmaleren Vorderreifen, die gerade mal 20km gelaufen waren, und den kalten (aber sauberen) Asphalt als Ursache vermutet. Etwas verwundert war ich aber schon.
    In meiner damaligen Verliebtheit habe ich das dann wohl vollständig verdrängt.


    Aber wie ich jetzt Deinen Post lese, fällt es mir wieder ein.


    Früher habe ich die Behauptung mancher Fahrer, sie kämen ohne ABS schneller zum Stehen, als Angeberei abgetan.
    Da habe ich mich wohl geirrt. Sorry.... :|

    Schöne Grüße aus Boblas
    Matthias


    Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Ernst Bloch (1885-1977)


    [b]Meine Reisen

  • #28

    Also die Überlegenheit des menschlichen Fahrers beschränkt sich idR. auf sehr wenige und optimale Grip-Verhältnisse.


    Ob die DL1000 nun wirklich einen kürzeren Bremsweg hat, hängt auch nicht vom ABS Ja/Nein ab, sondern mehr von den Bremsen/Reifen/... und die Rabiatität ist ein subjektives Empfinden, dass auch noch von der Fehzeuggeometrie, der Sitzbank, der Sitzposition und dem Federweg abhängt. Das ABS hat da wirklich den geringsten Einfluss. Das die grosse GS etwas besser bremst liegt am Tele-Dingenskirchen, das das Eintauchen etwas reduziert.


    Noch was: Meine XRV mit Stahlflexleitungen ohne ABS blockiert vorne schon bei Gelegenheiten, bei denen die CB1300 mit ABS noch bestens zupackt und ich mit der SP2 mit der Nase den Tacho grüsse. Das liegt aber daran, das die Enduro wegen des langen Federwegs erst mal Druck auf der Strasse aufbauen muss, während die Bremsbeläge sofort zupacken. Ich hab Sie deswegen schon in den Wald gefahren und nen Koffer abgerissen :cry: . Da ist ein ABS, dass die Bremse erst mal ein paar 10'tel zurückhält durchaus nützlich. Ich würde Heute keine Stahlflex-Leitungen mehr an die XRV bauen.


    Ich weis, manche fahren ne Enduro wie eine Super-Moto, aber die Bremsen nicht! 8-)

    Grüße aus der Pfalz
    Harald

  • #29


    Ja auf der Rennstrecke und am Stammtisch


    Niemals bei einer Schreckbremsung oder auf unbekannter Straße mit unbekanntem Reibwert - Beweise jederzeit "on the road"

  • #30

    Jetzt sind wir beim Thema Bremsphysik angelangt. Sicher nicht ganz unwichtig, deshalb mal ein paar Überlegungen meinerseits dazu.
    Kann sein, dass ich punktuell falsch liege, was übersehen oder falsche Prämissen gesetzt habe.
    Dann lasst mich bitte nicht dumm sterben.


    Ich gehe mal davon aus, dass es mit jeder halbwegs zeitgemäßen Bremse möglich ist,
    ein Rad zu blockieren - mehr oder weniger gut dosierbar.
    In meiner Motorrad-Frühzeit war das noch nicht so, und wir haben vor jedem Wettkampf penibel die Bremstrommeln gesäubert und aufgerauht. Übrigens ohne großen Effekt... :)


    Beim konventionellen Federbein besteht die Gefahr, dass man bei bissig zupackenden Bremsen auf Block geht.
    Das heißt, ein Teil der anfänglichen Bremskraft wird in die Kompression der Feder umgesetzt.
    In dem Moment des Blocks entsteht eine Kraft-Spitze am Reifen, der vereinfacht ausgedrückt, die Haft- in Gleitreibung übergehen lässt. Wenn jetzt kein ABS eingreift, liegt man schnell auf der Nase.
    Beim GS-Teledingsbums kann das so nicht passieren.
    Ansonsten gilt: Bremsdruck im Grenzbereich nicht schlagartig aufbauen, sondern der Gabel Zeit zum Eintauchen geben.
    Auch aus diesem Grund sind mir weniger bissig zugreifende, dafür besser dosierbare Bremsen lieber.


    Dann ist - gleiche Haftbedingungen des Reifens vorausgesetzt - die Schwerpunktlage entscheidend.
    Genauer: Der Winkel der Line Schwerpunkt - Vorderreifenaufstandspunkt zur Straße.
    Je kleiner dieser Winkel, um so größer kann die Bremskraft gewählt werden, bevor das Hinterrad hochkommt.
    Bei einem Winkel von 45° wären das 9,81m/qs = 1g.


    Bei einem Chopper ist dieser Winkel konstruktionsbedingt viel kleiner als bei einem Supersportler oder gar einer Enduro.
    Ein Stoppie wird bei einem Chopper nicht hinzukriegen sein, weil vorher das Vorderrad rutschen wird.
    Auch meine DL1000 ist nie hinten hochgegangen, sondern vorher übers Vorderrad gerutscht.
    (Ich habe jede Ausfahrt mit einem Blockierversuch begonnen und das Vorderrad gezielt
    mehrere Male für Sekundenbruchteile bei 50- 80 km/h zum Fietschen geracht, einfach um im Gefühl zu bleiben und möglichst einen gedankenunabhängigen Automatismus zu etablieren.
    Das ist ein Trainingstipp von Bernt Spiegel und hat sich auch bei Notbremsungen ausgezahlt.)


    Bei guten Bedingungen haben Straßenreifen in Längsrichtung einen Haftreibungskoeffizienten von ca. 1 - 1,2.
    Das heißt, ich kann, wenn der Schwerpunkt tief genug liegt, unter optimalen Bedingungen mit 11,7m/qs = 1,2g bremsen (Schlupf vernachlässigt).
    Dazu müsste der o.g. Winkel kleiner als 40° sein (tan 1,2).


    Ausgehend von einer Grafik, die den Schwerpunkt angibt habe ich mal skizzenhaft den resultierenden Schwerpunkt bei voller Beladung konstruiert und den Winkel bestimmt:


    Der liegt bei knapp unter 40°. (Interessanterweise wäre er bei Solobetrieb sogar noch kleiner als mit Sozia und Gepäck).
    So sollte also selbst bei optimalen Bedingungen und einer Bremsverzögerung von 1,2g ein Stoppie gerade so ausbleiben.


    Wenn aber die Bremsverzögerung der AT vom ABS generell auf 0,94g beschnitten wird, finde ich das Verschenken von möglichen Bremswegeinsparungen durchaus beachtlich.
    Aus 100km/h wären das 70,4m - 55,4m = 15m (In Worten 15 Meter)!
    Hier habe ich mich verrechnet. Korrigierte Werte: 42m-33m = 9m
    Selbst wenn man manuell nicht an der Wimmergrenze bremst, dürften die 70m von einem guten Fahrer locker zu unterbieten sein.


    @ Manfred: Prinzipiell gebe ich Dir Recht: So fein und definiert nah an der Blockiergrenze wie ein ABS kann kein Mensch manuell regeln.
    Aber hier wäre der Fall ja anders.
    Wenn Du mit der Limitierung Recht hast, ließe das ABS ja gar nicht zu, dass in die Nähe der Blockiergrenze gegangen wird.
    Im Gelände würde das keine Rolle spielen.
    Auf der Straße schon.


    --- Warum ich das alles schreibe? Weil ich krank geschrieben zu Hause sitze und nicht fahren kann :oops: :oops: :oops: ;)

    Schöne Grüße aus Boblas
    Matthias


    Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Ernst Bloch (1885-1977)


    [b]Meine Reisen

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