Der Motorradfahrergruß
Der bekannte Motorradfahrergruß ist ein mehr oder weniger deutliches Zurkenntnisnehmen eines entgegenkommenden Motorradfahrers
Zu diesemzh Zwecke erlaubt ist das Heben der Kupplungshand bis maximal Schulterhöhe oder das Abspreizen von mindestens zwei Fingern der linken Hand vom Lenkergriff. Grüßen mit der rechten Hand wird i. d. R. als uncool angesehen. Im Notfall, wenn die Kupplungshand z. B. mit Kuppeln beschäftigt ist, ist auch ein deutliches Nicken mit dem Kopf erlaubt.
Fahrtechnisch problematisch wird der Motorradfahrergruß beim Überholen. Die klassische Grußhand, die Linke, wird vom Überholten nicht gesehen. Grüßt man mit der Linken vorn am Körper vorbei nach rechts, tippen Autofahrer auf Heuschreckenschwärme oder Unterarmkrampf. Motorradfahrer mit Auslandserfahrung wenden daher in dieser Situation den mediteranen Motorradfahrergruß an: Spanische und französische Motorradfahrer sind immer irgendwie mit Gasgeben, Kuppeln, Schalten oder ihrer Sozia beschäftigt, so das sie durch Abspreizen des rechten Beins grüßen.
Nur Fortgeschrittenen zu empfehlen ist das sogenannte Abklatschen als Motorradfahrergruß: Der linke Arm wird soweit ausgestreckt, dass die ebenfalls ausgestreckte Hand des entgegenkommenden Fahrers berührt wird. Fehleinschätzungen von Geschwindigkeit und Entfernung können hierbei allerdings äußerst unangenehme Folgen haben. - Das Auf- und Abbewegen der waagerecht ausgestreckten Hand ist nicht als Motorradfahrergruß zu verstehen, sondern als Warnung z. B. vor Öl, Hindernissen oder Schnittlauch auf der Fahrbahn...
Regeln für den Motorradfahrergruß
Der Motorradfahrergruß ist stark reglementiert und wird von Anfängern nicht zu unrecht als kompliziert angesehen.
Die Frage, wer wen wann und wie grüßt und ob zuerst oder zurückgegrüßt wird oder überhaupt nicht, ist nur komplex zu beantworten und bedarf einer sehr differenzierten Betrachtung. Die Reaktion auf aktuelle Entwicklungen, wie zum Beispiel das Anwachsen des Hubraumes von Motorrollern oder die stetig steigenden Zulassungszahlen, wird unter Motorradfahrern kontrovers diskutiert.
Oldtimer werden grundsätzlich freudig und bewundernd gegrüßt, unabhängig vom Hubraum. Oldtimer werden meist von technisch versierten älteren Fahrern gefahren, so genannten 'alten Schraubern', und solchen ist Respekt zu zollen! Trifft man daher alte Schrauber, wartet man zunächst, ob sie einem den Motorradfahrergruß erbieten, um dann weinend vor Glück und Stolz zurückzugrüßen. Von Frühling bis Herbst grüßen viele alte Schrauber nicht, weil sie Winterfahrer sind.
Winterfahrer grüßen nur Winterfahrer, Saisonschwuchteln werden demonstrativ ignoriert. Treffen sich zwei Winterfahrer, ist die Freude groß. Man hält an, umarmt sich, baut ein Iglu oder wenigstens ein Lagerfeuer und redet mindestens zwei Stunden Benzin. Saisonschwuchteln hingegen grüßen in den ersten Frühlingswochen wie wild und beidhändig alles, was sich auf zwei Rädern bewegt. Vor lauter Aufregung vergessen sie dann oft, dass eine Kurve kommt. Sie haben immer frische Unterwäsche an - man könnte ja im Krankenhaus landen.
Harley-Fahrer werden nicht gegrüßt. Sie könnten sonst versehentlich den Motorradfahrergruß erwidern. Dabei kann, bei ungünstiger Drehzahl, der Lenker durch Vibrationen abbrechen. Da der Lenker meistens über 1m breit ist, lässt er sich nur schwer verstauen. Der typische Harleyfahrer hat deshalb nicht einmal einen Ersatzlenker dabei. Das ist der Grund, warum Harleyfahrer so oft am Straßenrand stehen.
BMW-Fahrer sind als arrogante notorische Nichtgrüßer verschrieen, da sie nicht grüßen und den Motorradfahrergruß nicht erwidern. Dies ist so nicht haltbar: andere BMW-Fahrer werden durch Hochziehen einer Augenbraue oder durch das leichte Lupfen des Kinnteils ihres Klapphelms gegrüßt...
Motorradfahrergruß in Sonderfällen
Ungeregelt ist die Grußkultur auf der Autobahn. Kaum ein Fahrer weiß, ob entgegenkommende Motorräder über sechs Spuren hinweg zu grüßen sind...
Auf beliebten Motorradstrecken ist die Motorraddichte teilweise inzwischen so hoch, dass dort kaum noch gegrüßt werden kann, denn es ist nicht ungefährlich, 70 Kilometer mit nur einer Hand am Lenker zu fahren...
Sportfahrer mit dem Knie auf der Erde sollte man nicht grüßen. Die glauben, auf der Rennstrecke zu fahren. Und dort bedeutet das Handheben des Gegenverkehrs, dass sie nach dem letzten Sturz die Orientierung verloren haben und fälschlicherweise die Strecke in Gegenrichtung befahren.
Kurz nach dem Wenden stellen sie allerdings beim nächsten Motorradfahrergruß fest, dass sie nun erst recht in der falschen Richtung unterwegs sind, und so wenden sie und fahren immer wieder hin und her, bis es so dunkel ist, dass sie keinen Gruß mehr erkennen. Dann begeben sie sich auf den Weg nach Hause an ihre Box.
Ein sehr ernstes Problem in Bezug auf den korrekten Motorradfahrergruß stellen Motorroller mit Hubräumen von 250 cm³ und mehr dar. Diese sind aufgrund ihrer Größe von vorne selbst von geübten Augen kaum noch von echten Motorrädern zu unterscheiden. Dies konfrontiert den echten Motorradfahrer mit einem fast unlösbaren Dilemma: Die Verletzung der Regel Nummer Eins ist unter keinen Umständen zu riskieren, grüßt man ein grußberechtigtes Fahrzeug jedoch nicht, ist man ein arroganter Sack ohne jegliche soziale Kompetenz.
Konzentriert man sich zu stark auf das entgegenkommende Fahrzeug, um es sicher zu identifizieren, läuft man Gefahr, die nächste Kurve zu verpassen und - dann allerdings korrekt grüßend - in die Leitplanke zu klatschen. Eine Lösung dieses Problems ist nicht in Sicht, da sich das bekannte Kartell aus Regierung und Industrie weigert, ein Identifizierungssystem, ähnlich der Freund-Feind-Kennung von Militärflugzeugen, als Serienpflichtausstattung für Motorroller vorzuschreiben...
Zu Konflikten kommt es auch, wenn man den deutschen Grußkulturraum verlässt. So sind deutsche Motorradfahrer in Italien verwirrt und erbost, weil dort partout niemand gegrüßt wird. Nicht einmal ein alter Schrauber. Die Erklärung: Der italienische Gruß besteht in einem für unser Auge nicht wahrnehmbaren Zucken des linken kleinen Fingers. Solche Missverständnisse führen zu dem Vorurteil, italienische Motorradfahrer seien unfreundlich und arrogant. Ein Desiderat der Grußkulturforschung!
In Deutschland gilt das minimalistische italienische Grüßen als verpönt. Man verachtet das furchtsame Festhalten am Lenker. Diese Haltung ist nicht unproblematisch. Wenn man beim Auto die Hand vom Lenkrad nimmt, fährt es geradeaus weiter. Lässt der Motorradfahrer den Lenker los, fällt die Maschine über kurz oder lang um. Besonders in Kurven. Ganz besonders beim sogenannten Heizen, dem enorm schnellen Fahren. Der Heizergruß in extremer Schräglage (ein Knie berührt den Asphalt) gilt als sehr riskant. Er wird allgemein als Nachweis hoher Fahrkunst angesehen. Wer diese Kunst nicht beherrscht und dennoch ausübt, riskiert seinen letzten, den sogenannten goldenen Gruß.
(C) DIE ZEIT Nr.31 vom 26.Juli 1996